06. Mai 08
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Französische Farbenspiele
  • CD Les folies françaises

 

Der 1976 in Lausanne geborene Pianist Cédric Pescia hat seine dritte CD vorgelegt, eine großartig gelungene, exquisit schön verpackte Sammlung französischer Klavierkompositionen von Couperin bis Messiaen, mit Debussy als Ellenbogen. Nach den Einspielungen von Werken Bachs und Schumanns setzt er so weiterhin auf Vielfalt.

Aus den vier ‘Livres de clavecin’ hat Pescia aus zwei ‘Ordres’ ausgewählt, dem 13. und dem 25. Aus dem dreizehnten Ordre stammt der Zyklus ‘Le folies françoises’, der der gesamten CD auch (mit leichter Änderung) den Namen geliehen hat. Es ist die einzige Sammlung von Variationen, die Couperin hinterlassen hat. Das vertrackte System der Namen, die Couperin jeder Variation gegeben hat, ist wahrscheinlich Abhandlungen wert: je ein Affekt, eine Maske und eine Farbe werden zu einem enigmatischen Verweisungszusammenhang kombiniert. Das wäre zwar eine Abhandlung, aber hier nicht der Rede wert, wenn nicht Pescia diesen enzyklopädischen Maskenball der Stimmungen interessant machen und überzeugend gestalten würde. Über der vorherrschenden noblen Melancholie, auf die alle kleinen Variationen aufbauen, deutet Pescia die Verschiebungen der Haltung auf subtile Weise an. Meisterhaft wird dies etwa im nahtlosen Übergang ‘La Langueur’ zu ‘La Coquéterie’ deutlich: beide Stücke, keine Minute lang, ähneln sich anfangs, aber nur scheinbar. Eine äußerst fein gestaltete Nuance von schleppendem Nachhängen hier und schalkhaft beschleunigtem Nachsatz dort deutet die ganze Entfernung der Masken zueinander an. Es liegt nahe, dass das Booklet hier auf die Welttheatervorstellung verweist und La Fontaine zitiert: die kleine Welt dieses Variationszyklus ist wirklich ‘eine große Komödie in hundert Akten, deren Bühne das Universum bildet.’
 
Fünf weitere Charakterstücke aus dem 25. Ordre festigen den Eindruck vom großartigen Spiel Pescia, das absolut klar und lichthaltig die gestenreiche Musik Couperins vergegenwärtigen kann. In ‘La mistérieuse’ beispielsweise perlen die Verzierungen von einer wortwörtlichen Zierlichkeit dahin, und lassen doch die glatten Konturen und die untergründige, mitschwingende Melancholie des Stückes immer hörbar. Interessant und auch gelungen an der Einspielung der Couperin-Werke ist, dass der Steinway-Flügel nicht gleichtemperiert gestimmt ist, sondern in einer reinen Stimmung, wie sie Couperin auf dem Cembalo verwendet hat. So intensiviert sich die Wirkung der Reinheit, wie auch der Spannung zu einer noch gesteigerteren Eloquenz. Das mag zwar im Vergleich zu vollblütiger historisch informierter Praxis halbherzig erscheinen, ist aber in jedem Falle volltönend.
 
Debussys zweites Buch Préludes, gelungener als so manchen Seerosenbild, gibt Pescia mit ausgiebiger Palette und sorgsamen, wenn auch unverdünnten Pigmenten. Die Farbenpracht und rhythmische Eindringlichkeit, die herrschen und die die technischen Wagestücke souverän vergessen lassen, die alle diese Gemälde grundiert haben, lassen auch bei diesen wohlbekannten Stücken immer wieder neu aufhorchen. Denn nicht zuletzt liegt über ihnen zusätzlich, als ein Firnis, Lust an dieser Musik und ihrer Darbietung. Gleich überzeugend gespielt werden hier die Zartheit der berühmten Mondscheinterrasse, als auch die kantige Brutalität der ‘Puerta del Vino’, alles ist voll bezwingender Beweglichkeit, ob es sich nun um ‘Feuilles mortes’ oder ‘Feux d’artifice’ handelt. Die Musik gewinnt bei Pescia eine Plastizität, wie man sie sich für die komponierten Farbtafeln nur irgend wünschen kann.
 
Das letzte Stück der CD ist auch das letzte Stück aus Olivier Messiaens ‘Catalogue d’oiseaux’: der ‘Große Brachvogel’. Und wenn es den Rest der CD nicht doch zu sehr abwerten würde, hier von einem krönenden Abschluss zu sprechen, so ist es doch der glänzende Schlussstein, der abrundet und hält. Niemand in der Familie der Schnepfenvögel oder der Ordnung der Regenpfeiferartigen hat wohl solch ein Denkmal. Die Strenge wie die Verfügbarkeit aller pianistischen Kräfte Pescias wird im ‘Brachvogel’ noch einmal demonstriert. Das gleitende Verschwinden perlend aufsteigender Tonreihen wie in einen Raum hinein, hart skandierte Ecktöne, der Wechsel des klagenden Vogelschreis, einer trostlosen Meereslandschaft und des Nebelhorns (ein Cluster aus allen 12 Tönen der Tonleiter), all das formt ein großartig dargebotenes Musikstück. Wiederum ein Gemälde, wiederum eine französische Verrücktheit von abbildender Enzyklopädie. Und dabei ist die Musik Pescias besser als die großen Wörter von Farbe, Malerei und Enzyklopädie.
 
Tobias Roth

 

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