Juni 09
Musik und Theater

Wer macht die schönsten CDs? Nun, das ist erstens Geschmackssache. Zweitens aber haben die französischsprachigen Labels Naive, Hamonia Mundi France und das im schweizerischen Pully (bei Lausanne) beheimatete Label Claves die besten Chancen: Firmen, die sich in aufwendiger Papieraufmachung, mit Beisteck-Büchlein und Fotokunst wechselseitig überbieten. Und sich über das Plastik-Image vieler Majors geradezu lustig zu machen scheinen. Der Schweizer Pianist Cédric Pescia, der in Lausanne geboren wurde, publiziert grundsätzlich bei Claves. Seine im letzten Jahr erschienene CD „Les folies francaises“ mit Klavierwerken von Couperin, Debussy und Messiaen gehört zu den elegantesten CD-Visitenkarten der letzten Jahre.

Eleganz scheint ohnehin eine in der globalisierten Musikszene kaum mehr verbreitete Tugend. Und zugleich eine, die den 1976 geborenen Schweizer in Berlin besser trifft als fast alle gegenwärtigen Pianistengrößen neben ihm. Lang geschwungene, duftige Melodienbögen, eine Vermeidung klecksender Extreme und die farbenreiche Illumination musikalischer Linien sind die hervorstechende Qualitäten eines Musikers, der sich hiermit erkennbar von den sperrigen, intellektuellen Vorlieben seiner geistigen Person abhebt.

Cédric Pescia (sprich: Peschá) liebt die Romane von Franz Kafka, Thomas Bernhard und Robert Musil. Je vertrackter, desto besser. Er besucht oft die Berliner Theater, Sprechbühnen wie Opern, und ist hierbei ein Fan von René Jacobs Barock-Dirigaten geworden. Das befruchtet. So sucht Pescia, der nach Studien bei Christian Favre (Konservatorium Lausanne) und Dominique Merlet (Genf) mittlerweile bei Klaus Hellwig an der Berliner Universität der Künste studiert, sogar in Beethovens drei spätestens Sonaten (op. 109 bis 111), seiner neuesten CD, die strukturellen Härten und Widersprüche klanglich zu vermitteln und auszugleichen. Das ist umso mutiger (und klischeewidriger), je harmonischer und gewaltfreier die Musik dadurch wirkt. Cédric Pescia, kein Franzose, versucht ein als französisch geltendes Klangideal aufzufrischen, das in Wirklichkeit bei wenigen französischen Pianisten nachweisbar ist. Eher schon bei den Schweizern.

Seinen französischen Vorgängern am Klavier nämlich ist keineswegs ein vordringlich eleganter Interpretationsstil nachzusagen. Robert Casadesus, Vollblut-Pariser, betonte stets die kontrapunktische Dialektik der Musik. Yves Nat und die wundervolle Marcelle Meyer neigten niemals zum musikalischen Verzärteln. Und die legendäre Marguerite Long, Lehrerin von Samson Francois und Philippe Entrement, war eine klangspitze, aber expressive Pianistin. Sie alle schienen gegen Eleganz beinahe anzuspielen. 

Dagegen wäre bei einem Landsmann von Cédric Pescia, dem in Vevey geborenen Ernest Ansermet (langjähriger Chef des Orchestre de la Suisse Romande) durchaus eine Neigung zur klanglichen Abrundung, zum rhythmischen Mäßigen und zur orchestralen Gewichtsreduktion diskutierbar. Sie weist in eine ähnliche Richtung wie bei Cédric Pescia, wenn er Bachs Goldberg-Variationen mit feinem Schliff das Tänzeln oder Beethovens op. 111 Manieren lehrt, um ihm anschließend beim Verlassen der Bühne – einige köstlich schwermütige Seufzer mit eingerechnet – gleichsam höflich und leise die Tür aufhält.

Mit drei Agenten und 50 bis 60 Konzerten pro Jahr gehört Cédric Pescia inzwischen zur mittleren Ebene der zum Sprung auf die Weltkarriere ansetzenden Pianisten. Es gibt nicht viele davon, da der Start heute gewöhnlich rascher und gefährlich raketenhaft zu erfolgen pflegt. Der Fan alter Pianisten wie Alfred Cortot und Arthur Schnabel hat sich fast ganz auf Solo-Abende (und Kammermusik) spezialisiert. Sein absoluter Favorit unter älteren CD-Aufnahmen: die beiden Chopin-Platten des frühen Wilhelm Kempff. Konzerte mit Orchester spielt Pescia wenig. Dahinter verbirgt sich fast eine Abneigung gegenüber den postromantischen Russen wie Rachmaninoff (und noch Prokofieff). Ihnen gegenüber bevorzugt er kleine Stücke Frescobaldi.

In zahllosen Meisterkursen ließ sich Pescia von allem inspirieren, was gut und teuer ist. Daniel Barenboim lehrte ihn (mit Erfolg) strukturelles Denken. („Es gibt keinen, der so sehr vom Aufbau und von der Struktur an die Musik herangeht wie er.“) Bei Leon Fleisher und Dimitri Bashkirov, die sein Curriculum auflistet, seien die Stunden zu kurz gewesen, um wirklich beeinflusst zu werden. Dagegen habe Andreas Staier in kürzester Zeit viel bewegt. Der Hunger auf neueres Repertoire (wie Cage, Bloch oder Enescu, letzteres auf der neuen Duo-CD mit Nurit Stark) habe seine Erfahrung völlig angestachelt.

Der junge Mann, der im West-Berliner Charlottenburg gemeinsam mit der Geigerin Nurit Stark eine Altbauwohnung bezogen hat (aber woanders übt), betreibt seit 2007 in einem ehemaligen Gaswerk in Lausanne auch sein eigenes Kammermusik-Festival, genannt „Ensemble enScène avec Cédric Pescia“ (im Théâtre Kléber-Méleau in Renens-Lausanne). Mit Freunden wie dem Geiger Pierre Amoyal, dem Cellisten Jens-Peter Maintz oder dem Pianisten Martin Helmchen. Und in diesem Juni sogar unter Mitwirkung von Sofia Gubaidulina und Viktor Suslin. Auch das Begleiten von Sängern wie Rahel Harnisch und Marie-Claude Chappuis haben den Horizont belebt und die Richtung Kammermusik bekräftigt.

Auf Fotos wie im Gespräch fällt der lachend niedergeschlagene, offensiv schüchterne Blick auf, der einen Teil auch des Charmes seiner Aufnahmen ausmacht. In fünf Konzerten wird Cédric Pescia in Davos zu erleben sein. Darunter in einem nur John Cage gewidmeten Programm. Der war ein sphinxhafter ruhiger, witziger Mann. Die beiden hätten einander gut verstanden.
 
Kai Luehrs-Kaiser