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Seine Eltern hatten mit Musik überhaupt nichts zu tun, und das war vielleicht auch gut so, findet der Schweizer Pianist Cédric Pescia. Zumindest könnte es daran gelegen haben, dass er seine Begabung spielerisch entwickeln konnte, ohne falschen Ehrgeiz und Druck. Wann und wo er als Kind zum ersten Mal ein Klavier hörte, daran kann sich der heute 33-Jährige gar nicht mehr so genau erinnern, in der Schule vielleicht – jedenfalls war damit eine Faszination fürs Leben geboren. Richtig ernst wurde es aber erst in der Teenager-Zeit. In aller Stille ist so einer der interessantesten Pianisten der jungen Generation herangereift, unschlagbar seriös allein schon dadurch, dass er seine glänzende Technik völlig unspektakulär und natürlich im Dienst der Werksubstanz wirken lässt. Zurzeit erobert er die großen Konzertsäle der Welt, die Berliner Philharmonie, die Carnegie Hall, die Wigmore Hall London.
Fünf CDs hat er in den letzten fünf Jahren beim Label Claves herausgebracht, die die Presse geradezu enthusiastisch aufnahm – Zeugnisse eines ebenso vielseitigen wie eigenwilligen musikalischen Geistes: Bachs „Goldberg-Variationen“ gibt er eine energievolle Frische und persönlichen Ausdruck jenseits subjektivistischer Verzärtelungen; in den „Davidsbündlertänzen“ zeigt er sich Schumann wesensverwandt; geradezu eine Kostbarkeit ist die dritte CD mit Werken von Couperin, Debussy und Messiaen unter dem Titel „Le Folies françaises“. Bemerkenswert auch die Einspielung so gut wie unbekannter, aber entdeckenswerter Violinsonaten von Busoni und Enescu mit der Geigerin Nurit Stark, Pescias Lebensgefährtin. Pescias letzter „Coup“ ist die Aufnahme der drei letzten Beethoven-Sonaten, eine selbstbewusst unkonventionelle, aber niemals willkürliche Annäherung an dieses „Allerheiligste“ der Klavierkunst. Wir trafen Cédric Pescia in seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg und lernten einen außergewöhnlich sensiblen, jedes Werk mit äußerster Sorgfalt und Differenzierung erschließenden Künstler kennen, der zugleich allem Neuen aufgeschlossen ist und über einen feinen Humor verfügt. Bei einem exzellenten grünen Tee ging das Gespräch um seinen Werdegang und Treue zu sich selbst, Erneuerung des Repertoires und die Seele alter Flügel.
PIANONews: Als Debüt-CD haben Sie ausgerechnet die „Goldberg-Variationen“ gewählt, mit denen sich schon andere Pianisten einen Senkrecht-Start verschafften. Haben Sie da ein bewährtes Rezept kopiert?
Cédric Pescia: Es war einfach die größte Heraus-
forderung, die ich bisher im Leben hatte. Ich hatte mir den ganzen Bach methodisch erarbeitet, auf dem Cembalo geübt, bevor ich an den modernen Flügel ging. Ich habe sie geübt wie kein anderes Stück, weil sie mich so interessierten, und dann war auch klar, dass ich das als erste CD herausbringen würde.
PIANONews: Wie profitiert denn die Bach-Interpretation auf dem modernen Flügel vom Cembalo-Spiel?
Pescia: Mich hat diese ganz andere Klangwelt interessiert. Und so spiele ich oft auch ziemlich schnell und setze das Pedal nur manchmal ein, an bestimmten Stellen. Ich habe das Stück sehr sorgfältig mit Andreas Staier studiert, das war unglaublich interessant für mich, etwas aus einer ganz anderen Perspektive von einem Cembalisten zu erfahren, der viel Musik vor Bach spielt – als Pianist sieht man das mehr aus einer romantischen oder modernen Perspektive. In den „Goldberg-Variationen“ treffen sich wahrscheinlich die alte und die neue Welt, und deswegen hat es mich sehr inspiriert, mit Staier zu arbeiten.
PIANONews: Sie gehen an jedes Ihrer Projekte außergewöhnlich gründlich heran und versuchen die jeweilige Klangwelt immer ganz genau zu erfassen. Haben Sie das schon in Ihrem Studium gelernt?
Pescia: Meine Ausbildung hatte sehr unterschiedliche Phasen. Als Kind konnte ich mich ganz frei entwickeln und habe mehr mit dem Klavier gespielt als geübt. Meine Lehrerin hätte sicher besser sein können, aber sie hat doch immer auf mich gehört und aufgepasst, dass ich mich in meinem Rhythmus entwickle. Auch mein Lehrer am Konservatorium Lausanne, Christian Favre, hat mich nie gepusht. Es ging immer um die Freude an der Musik; man übte immer mehr, weil die Musik so wunderbar war, und nicht weil man Erfolg haben und besser sein wollte als andere.
PIANONews: Bei Dominique Merlet in Genf wurde das dann anders.
Pescia: Ich kam mit Sechzehn zu ihm. Das waren schon harte Jahre mit Merlet, aber auch wichtige Jahre. Er war mit allen Studenten sehr streng, aber mit mir noch mehr, weil ich sehr undiszipliniert war und auch nicht das technische Niveau der anderen hatte. Zum ersten Mal habe ich wirklich geübt. Bisher machte ich alles immer so irgendwie, wie es gerade passte, und wenn nicht, machte ich was anderes.
PIANONews: Gerieten Sie da nicht in eine Krise, als alles nicht mehr so leicht und mit Spaß ging?
Pescia: Natürlich, ich glaube, ich habe auch etwas verloren in diesen Jahren. Die Zeit zwischen 16 und 20 ist sowieso schwierig für manche Menschen. Ich konnte mich mit der Musik plötzlich nicht mehr ausdrücken, und manchmal zweifelte ich sowieso, ob ich nicht lieber etwas anderes machen sollte. Rückblickend muss ich aber sagen, dass es genau das Richtige für mich war. Merlet lehrte große französische Schule, eine sehr sichere und klug durchdachte Technik, und heute bin ich froh, dass ich zum Beispiel schnell viel Repertoire erarbeiten und sehr gut vom Blatt spielen kann.
PIANONews: Was verstehen Sie denn unter französischer Schule?
Pescia: Sie ist vielleicht nicht so ausgeprägt wie die russische, aber doch etwas Besonderes: Wenn man an die großen alten Pianisten denkt wie Yves Nat oder Alfred Cortot, dann geht es schon darum, dass alles leicht und elegant und klar wirkt. Die Musik bleibt auch an einer gewissen Oberfläche, ist nicht so philosophisch überfrachtet wie in Deutschland.
PIANONews: Und Sie sehen sich kulturell als Franzose?
Pescia: Absolut, ja.
PIANONews: Warum kamen Sie dann nach Deutschland?
Pescia: Ich hatte das Gefühl, dass mir noch etwas fehlte, als Mensch und als Künstler. Und Amerika kam überhaupt nicht in Frage, denn ich wollte zu den Wurzeln zurückgehen. Die Musik, die ich am meisten liebe, kommt eben aus Deutschland, und ich dachte auch, es kann nicht schaden, die Sprache etwas besser zu kennen [lacht].
PIANONews: Sie studierten dann bei Klaus Hellwig an der Universität der Künste Berlin.
Pescia: Ich kam auf Empfehlung meines Lehrers Merlet zu Hellwig. Es war überhaupt eine sehr kluge Entscheidung, mich nach Deutschland zu schicken. Die Menschen, denen ich begegnete, waren viel offener, als ich es bisher kannte. Und bei Hellwig konnte ich plötzlich alles anwenden, was ich bei Merlet gelernt habe. Ich fing wieder an, mich auf der Bühne wohl zu fühlen.
PIANONews: Haben Sie bei Hellwig Ihr Repertoire erweitert oder verändert?
Pescia: Erstaunlicherweise ging es da erst richtig los mit der französischen Musik, denn er hatte einen sehr guten Zugang dazu, hat auch in Paris studiert.
PIANONews: Sie haben dann 2002, mit 26 Jahren, einen renommierten Wettbewerb gewonnen, den „Gina Bachauer“ in Salt Lake City.
Pescia: „Gina Bachauer“ war der erste und einzige Wettbewerb, den ich je gemacht habe. Vorher habe ich mich mindestens zehn Mal zu anderen Wettbewerben angemeldet und wieder abgesagt. Ich hatte überhaupt kein Selbstvertrauen. Ich dachte, mit meinem Repertoire, das so ganz anders und auch nicht so beeindruckend ist wie das meiner Mitbewerber, habe ich überhaupt keine Chance. Schließlich hatte ich diesen Wettbewerb gefunden, wo ich spielen konnte, was ich wollte, die „Goldberg-Variationen“, „Davidsbündlertänze“ und das „Jeunehomme“-Konzert von Mozart im Finale, und habe gewonnen, gegen Rachmaninow und Prokofiew und solche virtuosen Sachen. Außerdem durfte man drei Runden spielen, ohne Elimination. In der ersten Runde war ich schlecht und wäre in einem anderen Wettbewerb bestimmt gleich rausgeflogen. Das war meine Chance, dass ich die Zeit bekam, ein biss-chen mehr zu zeigen.
PIANONews: Es war dann doch eine gute Erfahrung?
Pescia: Es war schön und hat schon einiges gebracht, ein paar Konzerte und etwas mehr Selbstvertrauen. Das braucht man doch als Künstler, man kann nicht immer zweifeln und grübeln ...
PIANONews: Haben Sie deswegen nach dem Studium noch an so vielen Meisterkursen und Workshops teilgenommen? Außer bei Andreas Staier haben Sie sich bei Daniel Barenboim, Leon Fleisher, Dimitri Bashkirov, Pierre-Laurent Aimard und noch vielen anderen Anregungen geholt.
Pescia: Das war oft nur ganz kurz. Mit Barenboim hatte ich, glaube ich, sechs Stunden, in denen ich aber sehr viel über den Aufbau und die Struktur der Musik gelernt habe. Oft ging es auch einfach um die Begegnung mit diesen großen Persönlichkeiten. Man kann nie genug haben von Musikern mit viel Erfahrung, und manchmal denke ich, auch wenn die Liste sehr lang ist, es war noch nicht genug.
PIANONews: Besonders wichtig war für Sie die Begegnung mit dem chinesischen Pianisten Fou T’song.
Pescia: Mit Fou T’song habe ich solche magischen Momente erlebt, wo man das Gefühl hat, alles stimmt irgendwie. Wenn ich das „Jeunehomme“-Konzert gespielt habe und er hat begleitet. Und dann hat mir so imponiert, dass er aus China kam, wo es damals gar nicht populär war, klassische Musik zu spielen. Er weiß so viel darüber, aber irgendwie kommt das doch aus einem ganz anderen Blickwinkel. Es gab dort damals keine Tradition, und deshalb hatte er eine unglaubliche Freiheit, die Sache nach seinen Vorstellungen anzugehen. Das war oft stilistisch nicht korrekt, aber dafür so emotional, großzügig und warm – es gab einfach so viel Leben dafür.
PIANONews: Auf Ihrer Liste stehen noch ganz andere Namen, über die man sich wundert, etwa Fischer-Dieskau oder das Alban Berg-Quartett.
Pescia: [lacht] Ich hatte eine Zeitlang ein Trio, und wir haben zwei Jahre lang in Köln beim Alban Berg-Quartett studiert. Und für einen Pianisten sind Kommentare von Leuten immer unglaublich interessant, die nicht genau wissen, wie der Klavierton produziert wird, von Streichern oder Sängern. Das war besonders mit dem Bratscher Thomas Kakuska der Fall, der jetzt gestorben ist. Und mit dem Singen oder der Bogenführung von Streichern habe ich mich schon sehr beschäftigt, Atem und Phrasierung sind etwas sehr Wichtiges. Ein Vibrato kann man nun mal nicht machen auf dem Klavier, und so ist es eine große Inspiration, mit Sängern und Streichern zu spielen und zu versuchen, das nachzuahmen.
PIANONews: Deswegen ist Kammermusik für Sie so wichtig. 2007 haben Sie sogar ein Festival gegründet.
Pescia: Das Festival „Ensemble enScène“ in Lausanne, wo ich mit Freunden wie dem Geiger Pierre Amoyal oder dem Cellisten Jens-Peter Maintz musiziere. Mit Werken von Sofia Gubaidulina und Viktor Suslin haben wir uns diesmal noch weiter in den Bereich der Neuen Musik vorgewagt. Vor allem in der Kammermusik kann ich Neues ausprobieren, bevor ich das im Solorepertoire wage. Zum Beispiel war mir die dritte Violinsonate von George Enescu erst sehr fremd, ich dachte, so eine „Zigeunerfolklore“ kann man nicht spielen, aber dann faszinierten mich doch diese Art Cembalo-Effekte im Klavier, das muss man ganz perkussiv spielen, aber auch delikat – wie übrigens Enescu selbst auch Klavier gespielt hat, ähnlich wie Dinu Lipatti.
PIANONews: Sie unterrichten ja auch, zum Beispiel an der „Accademia Pianistica Internazionale“ in Imola. Ist das für Sie auch eine Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen?
Pescia: Ich kann mich da ganz stark selbst reflektieren; vor allem merke ich, wie sehr ich die Musik liebe und wie wichtig es ist, diese Liebe an die Studenten weiterzugeben. Ich hatte ja selbst so viele Einflüsse und mit meinem Spiel kann ich nur einen kleinen Teil davon zeigen, weil ich ja im Grunde immer ich selbst bleibe. Beim Unterrichten ist das anders. Dort kann ich auch Dinge probieren, die ich für mich selbst auf der Bühne nie machen würde. Ich würde nie versuchen, wie Horowitz zu spielen oder wie Pogorelich – aber für einen Studenten besteht die Möglichkeit, ihm diese oder jene Richtung zu zeigen, obwohl das nicht meine ist. So ist das also viel offener als das Üben für mich selbst.
PIANONews: Neue Dinge können Sie auch im Tonstudio ausprobieren; etwa die unterschiedliche Stim-mung für Ihre CD „Les Folies françaises“.
Pescia: Es ist für mich bei jeder Aufnahme sehr wichtig, wie die Flügel gestimmt sind. Es sind dann ganz andere Farben möglich. Und Couperin ist für mich einfach eine ganz andere Klangwelt als Debussy oder Messiaen. So kam im Gespräch zwischen dem Tonmeister und mir die Idee, einen Flügel untemperiert zu stimmen. Wir waren begeis-tert, so etwas gab es noch nicht, soviel ich weiß. Der Stimmer hat den einen Flügel sehr brillant gestimmt und den anderen in einer relativ einfachen „historischen“ Stimmung der Zeit vor Bach – es gab damals ja so viele „Temperaturen“ wie Städte. Das war für mich wirklich eine neue Welt, Klänge, die ich nur vom Cembalo her kenne. Ich habe mich zwar inzwischen wieder an die andere Stimmung gewöhnt, aber ich sehne mich immer noch nach diesem Klang. Das finde ich schön, dass davon etwas geblieben ist.
PIANONews: Wie war das bei der Aufnahme der Beethoven-Sonaten?
Pescia: Da war so ein alter Flügel in der Siemens-Villa in Berlin, vielleicht so vierzig Jahre alt. Auf dem wollte kein Mensch spielen, denn er war schon etwas schwer zu kontrollieren. Ich habe zu meinem Klavierstimmer Thomas Hübsch gesagt, den muss ich haben, und er hat ihn großartig intoniert. Ich fühle mich dann einfach inspirierter, vielleicht ist es nur Einbildung, ein Klavier hat ja eigentlich keine Seele, oder? Aber wenn ich daran denke, welche Pianisten darauf möglicherweise gespielt haben, dann bringt mir die Verbindung zu diesen Persönlichkeiten auf jeden Fall etwas.
PIANONews: Wie fühlt es sich an, in relativ jungen Jahren Werke einzuspielen, die schon in so vielen großartigen Interpretationen vorliegen?
Pescia: Es geht nicht darum, im Vergleich zu sein mit den anderen Pianisten. Ich hatte das Gefühl, ich muss das für mich selber machen. Ich spiele die Stücke seit fünfzehn Jahren, und die intensive, von allen Ablenkungen abgeschlossene Arbeit im Studio ist der beste Weg, sich zu vertiefen, der Musik noch näher zu kommen. Im Studio kann ich auch ganz entspannt Dinge wie Tempo, Dynamik, Phrasierung ausprobieren. Es war, als ob Beethoven selbst noch beim Komponieren experimentierte. Es war unglaublich, was sich in diesen Tagen auch menschlich in einer ganz auf die Musik konzentrierten Stimmung ereignet hat, auch zwischen Beethoven und mir, wenn ich das so sagen darf, eine wunderbare Arbeit für alle Beteiligten.
PIANONews: Es geht Ihnen in Ihrer Arbeit immer wieder um die Erfahrung mit neuen, auch klavierfremden Klängen. Sie bleiben sich treu, aber suchen auch die Inspiration durch äußere Einflüsse. Was war bisher Ihre extrems-te Klangerfahrung?
Pescia: Natürlich die Musik von John Cage, die ich jetzt schon ein paar Mal im Konzert gespielt habe. Die Stücke für präpariertes Klavier sind fantas-tisch. Man fühlt sich auch auf der Bühne ganz anders, wenn man so etwas spielt, man ist nicht mehr derjenige, der bestimmt, sondern es passiert einfach. Das präparierte Klavier steht im Mittelpunkt.
PIANONews: Haben Sie auch schon 4’33“ gespielt? [Die legendäre „Schweigesonate“, bei der der Pianist 4 Minuten und 33 Sekunden vor geschlossenem Klavierdeckel meditiert.]
Pescia: Nein, aber ich übe das seit langem.
PIANONews: Wir wünschen Ihnen viel Erfolg und danken für das Gespräch.